Eine Anthologie von Zitaten über drei Generationen von Deutschen

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Freiburger Rundbrief

Wie Wortsteine um ein Grab in den Lüften: so wirkt dieser schmale Band von Konrad Görg, Facharzt am Universitäts- klinikum in Marburg. Am Anfang der Erinnerung steht eine Grabschrift vom Jüdischen Friedhof in Frankfurt: In Erinnerung an die, die kein Grab haben. Diese Grabschrift erinnert an den 1933 in den östlichen Waldkarpaten geborenen Erwin Katz, 1944 deportiert und spät abends am 20. Mai 1944 zusammen mit seinen Eltern Samuel und Gisela in Auschwitz ermordet. Eingebettet wird seine Geschichte und die seiner Eltern in eine umfangreiche Erinnerungsarbeit über zwei Generationen hinweg. 193 Titel aus der Schoa-Literatur führt Görg im Literaturverzeichnis an, und aus ihr zitiert er – Zitat um Zitat – aus der Zeit der Großeltern, aus der Zeit der Eltern und aus der Zeit der Nachgeborenen: rund 250 Zitate – Wortsteine um ein Grab in den Lüften.

So häufen sich „Stimmen gegen das Vergessen“ über „zwei Generationen nach Auschwitz“ hinweg, und zwar mit einem besonderen Akzent, dass nämlich der arische Paradigmenwechsel in deutscher Vorgeschichte wurzelt: „Eine Vielzahl spezifischer Entwicklungen in der deutschen Geschichte sind als Wegbereiter für die spätere Katastrophe zu nennen.“ Ganz besonders gilt das für den religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen und rassischen Antisemitismus, der im Bürgertum und bei den bürgerlichen Eliten selbstverständlich war. Als Hoffnungsversprechen einer ‚neuer Zeit’ wurde der arische Paradigmenwechsel begrüßt und unterstützt. Schon dieser Akzent von Konrad Görg setzt Erinnerungsarbeit an der Erinnerung voraus. Denn der Sprachgebrauch von der sog. „Hitlerzeit“ oder von den „zwölf Jahre[n] unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft“ – wie ein in sich abzuschirmender Geschichtsabschnitt – verschleiert die Genese und Zustimmung zum arischen Paradigmenwechsel. In der Erinnerungsarbeit an der Erinnerung decouvriert sich das nach 1945 allgegenwärtige „Wir haben von nichts gewusst“ zu einem abgründigen „Wir haben von Nichts gewusst“.

In dem Abschnitt „Historische Wurzeln der Katastrophe“ vertieft das der Autor: „Der deutsche Donner wird kommen“ (Heinrich Heine, 1834; Görg, 67). So vielschichtig und mehrdimensional will die Erinnerungsanthologie „Wir sind, was wir erinnern“ von Konrad Görg sein: „[...] historisch erklärend, streitend, verzweifelt fragend, schreiend und anklagend, um Wahrheit ringend, um Versöhnung bittend und für die Zukunft hoffend“ (Einleitung, 15). Die eigentliche Gliederung der großen Generationenzusammenhänge von Großeltern-Eltern- Nachgeborenen erfolgt durch 14 thematische Schwerpunkte. Sie sind weithin bekannt, aber es ist aufschlussreich, wie Konrad Görg gewichtet.

Einen eigenen Schwerpunkt bildet das Thema „Antisemitismus in Deutschland vor 1933“. Mit kurzen Zwischenüberschriften gliedert und pointiert der Autor die Matrix für den rassischen Antisemitismus:

  • Antijudaismus, ein ‚Geburtsfehler’ des Christentums
  • Über Jahrhunderte hinweg: christlich ansozialisierte Vorurteils-Instinkte’
  • Wirtschaftlicher Antisemitismus im Kaiserreich
  • Der politisch-kulturelle Antisemitismus konservativer Kreise
  • Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus
  • Rassischer Antisemitismus im christlich konservativen Bürgertum


Auch die ev. Kirche war der Rassenideologie weithin verfallen. Kirchliche Sprache wie „rassisch unterwertige Mischlings- bildungen“ (Hans Meiser, ev. Landesbischof von Bayern, 1926) und Nazi-Sprache wie „Die Juden bilden eine Rasse von Untermenschen“ (Adolf Hitler, 1924) gehen Hand in Hand. Die gezielte Kommentierung der ausgewählten Zitate durch Konrad Görg rückt unbequeme Zusammenhänge in ein deutliches Licht. Die kirchliche Rechtfertigung der Aprilpogrome von 1933 – Görg zitiert das Evangelische Sonntagsblatt und Otto Dibelius – spiegeln Hitlers Programmatik wider: „Heraus aus dem Blut muss der jüdische Fluch vom Sinai.“ Man ahnt, dass das überwiegende Schweigen der Kirchen zum Sakrileg der Reichspogromnacht 1938 weniger durch Angst vor Repressalien als vielmehr durch willige Zustimmung zum arischen Paradigmenwechsel motiviert war.

Mit dem arischen Paradigmenwechsel setzte sofort die Entrechtung der deutschen Juden ein. Wer Ohren hatte, wusste: „Die Vernichtung der Juden wird meine erste und wichtigste Aufgabe sein“ (Adolf Hitler, 1922; Görg, 42). Mit seiner Kampfschrift „Die Judenfrage“ (1933) bejahte Gerhard Kittel, Professor für Evangelische Theologie, „entschlossen und bewusst“ die Entrechtung der Juden. Der öffentliche Protest von Martin Buber gegen „Diskriminierung“, „Diffamierung“ und vor allem „Entrechtung“ als Antwort auf Gerhard Kittel verklang nahezu ungehört.

In zwei Schwerpunkten geht der Autor auf „Wegsehen und Schweigen“ und „Die ‚zweite Schuld’ der Deutschen“ ein. „Es herrschte großer Friede mit den Tätern“ (Ralph Giordano; Görg, 58). Die derzeitige Veröffentlichung zum Auswärtigen Amt in der NS-Zeit stellt das erneut unter Beweis. Und trotzdem ist gegen den mainstream in der Erinnerungsarbeit an einen Pionier der Schoa-Erinnerung zu erinnern: an Albrecht Goes (1908–2000). Weit vor den 68ern schuf er, international beachtet, ein Fundament gegen Vergessen und Verdrängen: „Aber zuweilen muss einer da sein, der gedenkt“ (vgl. Freiburger Rundbrief 16[2009]25).

Die Zitate-Anthologie von Konrad Görg zur Schoa schließt mit den Abschnitten „Sehnsucht nach Versöhnung und Erlösung“ und „Verantwortung für Freiheit und Demokratie“. Aufgenommen sind auch Worte aus der Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2000 vor der Knesset in Jerusalem: „Gedenken wäre eine leere Hülse, wenn es nicht begleitet würde von verantwortlichem Handeln. Zu diesem aktiven Gedenken gehört auch unsere Mitverantwortung für das Land, das den Überlebenden der Schoa die ersehnte Heimstätte gegeben hat“ (Görg, 83; FrRu 7[2000]197 ff.).

In einer (hoffentlich bald) dritten Auflage von „Wir sind, was wir erinnern“ stünde dann wohl das Wort von David Grossman aus der Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche am 10. Oktober 2010:

„Stellen Sie sich vor: Auch nach 62 Jahren hat Israel noch immer keine festen Grenzen. Seine Grenzen verschieben sich etwa alle zehn Jahre, weiten sich aus oder werden zurückgedrängt, mal unseretwegen, mal wegen unserer Nachbarn. Wer keine klaren Grenzen hat, gleicht einem, in dessen Haus die Wände sich fortwährend bewegen; einem, der keinen festen Boden unter den Füßen spürt. Einem, der kein wirkliches Zuhause hat. Es ist – und das ist tragisch – Israel nicht gelungen, den jüdischen Menschen von seiner bitteren Grunderfahrung zu heilen: dem Gefühl, auf der Welt heimatlos zu sein.“

Helmut Zwanger, Tübingen, 2/2011
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