|
Home Inhalt Einleitung
Erwin
Katz
Todesmarsch
Buchauszüge
Rezensionen
Kontakt
Verlag/Bestellung |
|
Die Geschichte des Jungen Erwin KatzUnterrichte nie Geschichte, Der
gefährlichste Feind des Gedächtnisses ist die
Abstraktion.
In diesem Sinne gilt es weniger in anonymer und staatspolitisch aseptischer Weise der "Opfer des Nationalsozialismus" zu gedenken, sondern wir sollten beispielsweise wieder lernen, Geschichten zu erzählen: die Geschichte dieses Vaters Richard Schwarzschild, dieser Mutter Lena Donat dieses Mädchens Eva Heymann, oder dieses Jungen Erwin Katz … Der Holocaust ist nicht sechs Millionen, sondern Einer und Einer und Einer und Einer ... (J. Miller). nach Christoph Münz Es sind schon viele Jahre vergangen, seit ich einmal mit meinem alten Freund aus WG- und Studienzeiten Petr Abeles den Jüdischen Friedhof in Frankfurt besuchte. Dort, auf dem Grabstein seiner erst kürzlich verstorbenen Mutter Hilda Abeles, geb. Katz standen – damals für mich etwas verwirrend – nicht nur ihr Name, sondern auch die Namen ihrer Eltern Samuel und Gisela Katz (geb. Halpert) und ihres jüngeren Bruders Erwin, versehen mit einer zusätzlichen kleinen Inschrift: In Erinnerung an die,
die kein Grab haben Wer war dieser kleine
Junge Erwin, der 1944 im Alter von zehn Jahren in
Auschwitz starb? Petr versprach mir, seine inzwischen 84-jährige alte Tante Jolana, die älteste Schwester von "Onkel Erwin", etwas genauer zu befragen; und sie erzählte von ihrem kleinen Bruder: ´Unsere Familie wohnte in Huklive, einem kleinen Straßen- dörfchen inmitten der waldreichen Karpaten-Ukraine. Diese Gegend lag im östlichsten Zipfel der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakei. Wir in unserem kleinen Dorf sprachen aber rusinisch, ukrainisch oder eben jiddisch. Die Eltern besaßen damals einen kleinen an der
Straße gelegenen Bauernhof. Das Wohnhaus unseres Hofes
bestand aus einem Doppelhaus. In der anderen Hälfte des
Hauses
wohnte der Bru- der meines Vaters. Mit diesem Onkel und
seiner Familie
verstanden wir uns sehr gut. An Vieh hatten wir zwei
Pferde, sechs Kühe, Hühner, Schafe und einen Hund.
Zusätzlich gehörten uns einige Äcker und
Wiesen, wo für den Eigenbedarf Getreide, Kartoffeln und
Viehfutter angebaut wurde. In den langen Wintermonaten,
wenn es auf den
Feldern nichts zu tun gab, zog Vater oft mit seinen
Pferden und einigen
Männern aus der Nachbarschaft zum Holzschlagen in die
umliegenden Wälder oder aber er verdingte sich für
ein paar Wochen in einem der zahlreichen Sägewerke. Was soll ich über unseren Bruder, den kleinen blonden Wirbelwind mit seinen wachen blauen Augen erzählen? Er war lebhaft, aufgeweckt und in meiner Erinnerung eigentlich immer fröhlich. Und er mochte seine drei großen Schwestern wirklich sehr. Wenn um die Mittagszeit der Unterricht in unserer Einklassen-Dorfschule, die von einem netten tschechischen Lehrer aus Prag geleitet wurde, zu Ende ging, stand Klein-Erwin oft schon einige Zeit in der Wohnstube am Fenster und beobachtete gespannt die Dorfstraße. Sobald er die Schwestern dann erblickte, lief er uns eilig entgegen und erzählte wild gestikulierend, was er am Morgen Aufregendes erlebt hatte. Für mich gab es keine schönere Begrüßung nach einem langen Schul- vormittag. Noch heute sehe ich sein kleines vor Freude strahlendes Gesichtchen mit den weit aufgerissenen Augen vor mir. Erwin hatte viele Freunde und Spielkameraden im Dorf. Besonders gerne jedoch war er mit seinen Vettern und Kusinen vom Nachbar- haus zusammen, den Kindern meines Onkels. Stundenlang konnten sie, die Zeit völlig vergessend, im Dorf und in der nahen Umgebung herum- stromern. Einmal – so erinnere ich mich – war große Aufregung in unserer Straße. Bei einem ihrer wilden Kinderspiele auf der Wiese hinter dem Haus fiel Erwin in die dortige Jauchegrube und wäre fast ertrunken, hätten ihn nicht die älteren Kameraden rechtzeitig aus der stinkenden Gülle herausgezogen. Mit 6 Jahren kam dann auch dein Onkel in die Dorfschule. Wir Schwestern besuchten damals schon das Gymnasium in der 60 km von Huklive entfernten Bezirkshauptstadt Mukatschewo. Hier wohnten wir zur Miete bei Verwandten und sahen Erwin und die Eltern nur noch am Wochenende und in den Ferien. Erwin muss ein recht guter Schüler gewesen sein. Unsere Mutter erzählte uns öfters, wenn wir nach Hause kamen, dass der Junge in der Woche wieder mal besonders freudig aus der Schule gekommen war und voller Stolz ein großes Hühnerei auf den Küchentisch gelegt hatte: ein Geschenk seiner Mitschüler, weil er ihnen erneut bei den Hausaufgaben geholfen hatte. Von den großen bedrohlichen politischen Ereignissen
bekamen
wir Kinder kaum etwas mit. Nach der Zerschlagung der
Tschechoslowakei
zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde unser Gebiet
erneut ungarisch
und wir mussten daher im Gymnasium in Mukatschewo eine
uns
völlig fremde Sprache erlernen. Erst ziemlich
spät, im März 1944, wurden wir Juden dann gezwungen
den Stern zu tragen. Wie Erwin sich dabei gefühlt hatte,
weiß ich nicht. Für uns
Älteren war diese Stigmatisierung durch den Stern sehr
demütigend und auch erschreckend, denn richtige
Judenfeindlichkeit hatte es in unserer Gegend bislang
eigentlich nicht
gegeben. Am Morgen des 18. April 1944 kamen sie: eine brutale Horde ungarischer Polizisten, bewaffnet mit Schlagstöcken und Maschinengewehren. Den Juden des Dorfes wurde nur noch eine halbe Stunde Zeit gewährt, das Nötigste zusammen zu packen. Für uns Kinder und Jugendliche war dies ein heftiger Schock. Wir hätten so etwas Schlimmes niemals erwartet. Dein Großvater jedoch musste die ganze Entwicklung geahnt haben. Denn als ich nach dem Krieg unser Dorf noch einmal besuchte, – in der leider vergeblichen Hoffnung, noch irgendwelche Verwandte zu finden –, kam mir plötzlich ein ehemaliger Nachbar, ein alter rusinischer Freund meines Vaters entgegen. |
Die
Wahrheit aushalten |
|